zur ausstellungseröffnung 


Hermann Sturm


Wozu Emotionen, wenn es Tatsachen gibt?

– so lautet der Titel des Bildes, mit dem zu dieser Ausstellung eingeladen wurde. Das Bild zeigt, kommentarlos so scheint es, eine Situation; einen Sachverhalt, der uns bekannt erscheint aus den allgegenwärtigen, medialen Berichten von Ereignissen, von Aufruhr, Aufstand, Gewalt: ein älterer Mann zieht mit letzter Kraft einen verletzten oder schon toten jungen Mann aus einer nicht benannten Gefahrenzone.
Es geschieht auf einem schmalen Gehsteig vor einer hermetisch geschlossenen, abgeschlossenen Fassade; die metallischen Rollläden sind herabgelassen. Sie bilden zusammen mit den in ebenso geometrischer Gleichförmigkeit gezeichneten Quadern eine abweisende Folie. Beides zusammen, die Figuren und diese Fassade, schaffen ein schier unerträgliches Spannungsfeld. Wenn ich das Bild so betrachte und so beschreibe, dann drücken sich im Versuch, in Sprache zu formulieren, was ich sehe, bereits Emotionen aus, obgleich das, was ich sehe, einen nüchtern und teilnahmslos dargestellten Sachverhalt zeigt.

Der Bildtitel, Wozu Emotionen, wenn es Tatsachen gibt, scheint – er ist als Frage formuliert – einen Antagonismus, einen Widerspruch zu formulieren: Emotionen versus Tatsachen.

Es gibt von Robert Musil den folgenden Tagebucheintrag vom 16. 9. 1911: Man soll möglichst oft Tatsachen aussprechen lassen statt Gefühle. Dadurch entsteht die gewisse schöne Trockenheit. Das heißt also Dinge, die Anspruch auf objektive Geltung haben, nicht bloß subjektive.

Es existiert also ein Widerspruch oder Antagonismus zwischen objektiver Geltung einerseits und subjektiver Geltung andererseits. Wie kann dieser Widerspruch nun aufgehoben werden? In den Naturwissenschaften gibt es Ansätze, Widersprüche anders auszudrücken oder zu formalisieren. So sagt der Quantenphysiker Niels Bohr: Contraria sunt complementa, was etwa so viel heißt wie: Gegensätze ergänzen einander. Der Philosoph und Logiker Gotthard Günther hat zur Dialektik von Widersprüchen mit einer mehrwertigen Logik eine Formalisierung durchgeführt. Dabei ist mehrwertige Logik ein Oberbegriff für alle logischen Systeme, die mehr als zwei Wahrheitswerte verwenden.

… Im Gegensatz zur klassischen Logik ist die Deutung der Wahrheitswerte bei mehrwertigen Logiken weniger natürlich vorgegeben und es sind zahlreiche unterschiedliche Interpretationen vorgeschlagen worden. Viele Deutungen enthalten mehr als zwei Werte, nicht als Abstufungen oder Arten von Wahrheit und Falschheit, sondern es wird zum Beispiel epistemisch (erkenntnistheoretisch) als Abstufung von Erkenntnis oder Gewissheit gesprochen. [Quelle Wikipedia]

Bevor ich mich weiter auf logisches Glatteis begebe und mit Sicherheit glatt ausrutschen würde, wende ich mich lieber wieder den Bildern von ARTUR LASKUS zu.
Der Grund für diesen kleinen Exkurs, war ja Musils zugespitzte Bemerkung von einer gewissen schönen Trockenheit, die sich aus dem Anspruch auf objektive Geltung, gegenüber einem bloß subjektiven Anspruch ergebe. Oder, um es mit einer Bemerkung des englischen Malers Francis Bacon zu ergänzen: Große Kunst besteht immer darin, das sogenannte Faktische, das, was wir über unsere Existenz wissen, zu verdichten und es in einem neuen Licht erscheinen zu lassen. [In einem Interview 1973]

Beide Bemerkungen scheinen mir auf Bilder von LASKUS zuzutreffen. Allerdings sieht man sich dann vor das Problem gestellt, wie durch die Bilder und ihre Benennung der darin enthaltene und formulierte Antagonismus von Emotionen und Tatsachen aufgelöst wird. Er formuliert ja den Bildtitel, um noch bei dieser Arbeit zu bleiben, als Frage: Wozu … ?

Und damit schon wird mehr als nur eine wahre Antwort nahe gelegt. Das artifizielle Kalkül, das artistische Vermögen entblößt die Tatsachen, lässt sie sozusagen nackt erscheinen und verhindert so, dass Betroffenheit des Betrachters, dass seine durch die Darstellung ausgelösten Emotionen nicht sich in Sentimentalität, nicht sich in falschen Gefühlen auflösen. Dazu tragen dann auch die oft enigmatischen Bildtitel bei. Sie sind nicht selten rätselhaft relativ zu dem, was der Betrachter auf dem Bild sieht und was er für sich in seiner eigenen Wahrnehmung zu erschließen trachtet.

Meine Handlungen sind ein Bedienen der Oberflächen
und Verrückbarkeiten
sagt LASKUS.

Die in seinen Bildern geronnenen Handlungen und Sachverhalte sind von brisanter Aktualität. Man könnte hier berechtigter als es heutzutage in stromlinienförmigen Medientheorien üblich geworden ist, diesen Satz von Friedrich Nietzsche anführen: Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe ... oberflächlich aus Tiefe ...

Nicht aber bestimmt für LASKUS der Oberflächenreiz allein, bestimmen nicht formale Gründe allein die Auswahl und die Präsentation der Gegenstände und Bildelemente. Seine Darstellung entwickelt und eröffnet Zugänge zu Gedanken. Sorgfalt und Akribie, Artistik und Zufall verhindern nicht, sondern befördern Überraschung.
So entsteht die unbequeme Schönheit, oder noch einmal mit Musil: die schöne Trockenheit, und auch die fremde Poesie der Blätter und der Bilder im betrachtenden Auge.

Sein artistisch präzises Agieren ist nun nicht, wie man vermuten würde, auf die Herstellung einer eindeutig bestimmbaren Inhaltlichkeit aus, sondern es ist ästhetisch. Es ist ästhetisch, weil es das als bekannt Erscheinende, das für vertraut Gehaltene fern stellt. Und dies ist ein Essential jeglicher ästhetischen Produktion.

A kiss through glass. (Laskus)

Zahlreiche Notate von LASKUS charakterisieren ein Stück weit sein Denken hinter der Oberfläche seiner Bilder. Sie sind von der Art aphoristischer Feststellungen, von der Art antagonistischer, ja apodiktischer Urteile – z.B.: Nihilismus ist ein Glücksgefühl, so der Titel eines Bildes von 1974. (Nihilismus ist ein Glücksgefühl (Anxtwolke), 1974, Öl auf Leinwand, 123 x 100 cm, Privatbesitz) Wir blicken von oben auf eine zusammengekauerte Figur in einem grauen Nebel – einer Anxtwolke, so der in Klammern hinzugesetzte Untertitel. Der rechte Arm und die Hand umfassen den Kopf, der mit einer Art Verband umhüllt ist; der linke Unterarm scheint verkrüppelt oder amputiert zu sein. Ist es eine verletzte, leidende Person? Nihilismus bedeutet landläufig: Nichts, was es gibt, hat eine Bedeutung oder einen Wert, woher aber dann ein Glücksgefühl? Und das Ganze eine Anxtwolke? Ist diese Schreibweise eine Übernahme alltagssprachlich banaler Abkürzungen und damit eine ironische Replik auf unser Mitgefühl – wozu Emotionen, wenn es Tatsachen gibt? Die Titel irritieren, wir haben es gesehen. Sie führen hinters Licht.

Mein Wissen liegt im Schatten der Gegenstände.
(Laskus)
Schatten sind Löcher im Licht.

1998 stehen wir beide unter dem Wolkentisch in Bremerhaven und schauen nach oben. Die Tischplatte gibt mit ihren Durchbrüchen wolkenförmige Lichtfelder frei. Das stehengebliebene Eisen der Tischplatte bildet die Schatten, bildet die Löcher im Licht. Wie ich höre, steht der Wolkentisch nun im Schatten,
im falschen Licht einer Lagerhalle.

Einen Eindruck von der Wirkungsweise dieses Prinzips, den Wechselwirkungen von Form und Licht, von Positiv- und Negativform, das auch dem Wolkentisch zugrunde liegt, können wir an Arbeiten, seinen so genannten Shapes, nachvollziehen.

Ich will an eine weitere große Arbeit erinnern, die ARTUR LASKUS in Berlin 1982 im Künstlerhaus Bethanien realisiert hat; und Elemente daraus sind dankenswerter Weise hier zu sehen.

Nachstellungen
so der Titel. Es sind Gestelle im Raum; Nachstellungen im Sinne von nachspüren, verfolgen – wie auch: nach gestellt. Zentrales Objekt der Installation ist ein begehbarer Container. In die Schaumstoffwände im Inneren sind Figuren, sind menschliche Hohlformen eingelassen. In die Decke bohren sich hohle Büsten und umstellen die Hohlform einer Atombombe. Der auf leichten Metallstützen stehende Container steht schräg in der Kapelle des Bethanien-Hospitals. Ein kalter Lichtstrahl durchsticht Container und Raum und verbindet eine in der Apsis errichtete, säulenartig aus einem metallenen Rohr sich herauspressende Masse, in der die Figur einer Frau eingeformt erscheint. Die Säule endet im Mittelpunkt eines Zifferblattes, dessen Ziffern von innen gesehen werden. Wir befinden uns im Innern der Zeit.

LASKUS stellt mit den Nachstellungen einen Aspekt einer möglich gewordenen Welt ohne Handlungsmöglichkeit aus, Menschen sind im Kunst-Stoff eingeschmolzen, erstarrt und erstickt. Die Nachstellungen provozieren die unmittelbare, beklemmende Erfahrung des im Container dieser Zeit Seins. Wie ist ein Ausbruch aus dieser hermetischen Gefangenschaft möglich?

Das Betreten des Raumes ist eine beklemmende Schwellenerfahrung;
man überschreitet eine Grenze.

Sind die Schwellenbilder von LASKUS Angebote zu Grenzüberschreitungen? Angebote zu Grenzgängen? Wo Grenzen überschritten werden, bedarf es der Markierung der Grenzen durch Zeichen. Das prägnanteste Zeichen dafür ist die Tür, und mit ihr ist es die Schwelle. Sie trennt und verbindet zugleich, sie trennt und verbindet zugleich Innen und Außen als zwei Seiten desselben Aktes, nicht nur als Erfüllung praktischer Zwecke, sondern sie macht sie unmittelbar anschaulich.

Nun noch vom großen Format zum kleinen. Das bedeutet nicht, dass das Kleine nicht groß, nicht gewichtig aufzutreten in der Lage wäre. Also noch ein Wort zur Grafik: LASKUS nimmt Teile aus der Bilderwelt trivialer Alltäglichkeit, aus der Wissenschaft, aus der Technik, ihren Desasters, und er zeigt uns damit die Realität werdende oder schon gewordene Fiktion einer künstlichen Welt. Das Künstliche wird uns zum Natürlichen, die Intensivstation zum letzten Ausweg der Medizin aus dem wissenschaftlich-technischen Labyrinth. Künstlichkeit gesteuert durch Macht im Spiel gegen uns selbst.

Mit Abbildern von Abbildern verweist LASKUS auf die unsichtbar bleibenden realen Objekte und Vorgänge und zwingt den Betrachter in die Aktivität des Vorstellens jener realen Objektwelt und in die Reflexion. Seine Bilder, Zeichnungen, Grafiken, seine Fotoarbeiten, seine Filme, seine Objekte und Installationen treten aus dem kühlen Schatten der nahen Gegenstände heraus. Sie bilden ein Spannungsfeld, weil sie in unserer gewohnten Wahrnehmung Getrenntes wider alle Erwartung neu zusammensetzen, die Oberseite und die Unterseite der Medaille gleichzeitig präsentieren, auch das unter Gehäusen, in Geräten, Apparaten, Maschinen, unter den kosmetisch präparierten Häuten Verborgene und das Böse im Banalen und Nahen sichtbar machen: Die Computerschaltung als Gewürm und nicht in Verbindung mit einer Funktion, sondern mit den Mäandern einer mikroskopischen Zellaufnahme; die leer geblasene Landschaft im Hintergrund der Mona Lisa nicht mit der Mona Lisa, sondern als Folie einer utopischen Rekonstruktion futuristischer Architektur, einem Gehirn und einem Pin-Up.

Dadurch verklemmen sich die kombinierten Bildelemente mit ihren uns gewohnten Bedeutungsund Assoziationshöfen ineinander geradezu schmerzlich. Sein Werk spielt in der Ambiguität zwischen Banalem und Erhabenem. Sein Werk eröffnet Spielräume zur Kunst, ihrer Geschichte und der durch sie verfassten Mythen und sein Werk ist heute brisanter und aktueller denn je. Die Bilder von ARTUR LASKUS führen uns an Schwellen.

Seine Kunst ist gedankenreich, selbständig, unabhängig von Trends, sorgfältig und kunstreich; oft rätselhaft, stets überzeugend im Kleinen wie im Ganzen. Seine Kunst ist ganz wie er selbst.





Sturm und Laskus unter dem Wolkentisch in Bremerhaven, 1998

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