Weser Kurier, 26.10.2014


Christiane Tietjen


Kunst bei der Entstehung

Jeden Abend um 18 Uhr können Besucher im Klattendiek die Performance „Crossfade“ miterleben, die täglich einen künstlerischen Prozess sichtbar und hörbar macht. Die Sängerin, Komponistin und Lyrikerin Gabriele Hasler und die freie Grafikerin und Malerin Gunhild Tuschen füllen den Raum mit künstlerischer Präsenz, die sich gegenseitig ergänzt und entwickelt.

Ganz still ist es in dem weißen Raum. Rote Wäscheleinen sind quer durch das Atelier gespannt, an den Leinen hängen mit Grafitstift locker hingeworfene, ungegenständliche Zeichnungen. In Schwarz, auf bloßen Füßen, betritt Gunhild Tuschen den Raum, lockert sich ein wenig und steht während der nächsten halben Stunde mit dem Rücken zum Zuschauer an einem Pult und zeichnet.
Mit raschen, intuitiven Strichen füllt Gunhild Tuschen Blatt für Blatt. Manchmal begießt sie vorher das Papier stellenweise mit einer durchsichtigen, öligen Flüssigkeit. Sie überlässt dem Zufall, wie die Flächen entstehen. Währenddessen hört man, ohne etwas zu sehen, aus dem angrenzenden Raum, ein leichtes, rhythmisches Geräusch, als wenn Steine aufeinandergeschlagen werden.

Eierschneider als Musikinstrument

Mittlerweile hat Gabriele Hasler den Raum betreten, in dem Gunhild Tuschen zeichnet und ganz konzentriert ihre fertigen Blätter auf den Boden legt. Auch sie geht barfuß, sie trägt eine lockere Tunika über einer weiten Hose, beides in hellem Grau, und ein rotes Stirnband, das ihre Gesichtszüge freigibt. Hasler spricht Worte aus, Eigenschaftswörter, die eines verbindet: sie beginnen mit der Vorsilbe „ge-“. „Geerdete, geführte, gebildete“ – schier endlos ist das Spektrum.
Der Besucher der Performance erlebt sich, als sei er rein zufällig zum Beobachter eines Arbeits- und Entwicklungsprozesses geworden, so vertieft sind die beiden in ihre Tätigkeiten. Hasler probiert Dinge mit Klangstäben, mit einer Papierrolle, die sie zerknüllt. Auch nimmt sie einen Eierschneider, auf dessen Drähten sie feine Töne spielt. Es gibt eine Choreografie, ohne Frage, aber der experimentelle Charakter überwiegt, bei dem auch die Stille mitwirkt. Die beiden Künstlerinnen scheinen aufeinander zu hören und sind doch ganz bei sich.

„Crossfade“ ist ein Projekt, das sich über vier Wochen erstreckt und am Sonnabend, 1. November, endet. Die Bedeutung dieses Titels besteht zum einen im Überkreuzen der künstlerischen Disziplinen – des Bildnerischen und Lyrischen und des Stimmlichen. Zum anderen ist da das englische Wort „fade“, was soviel bedeutet wie verblassen, verklingen. Das andere ist die Bewegung des Körpers, die in dem Konzept „Crossfade“ steckt. Während die Komposition für Solostimme, „G.bete 365“ genannt, allmählich leiser wird, gibt es ein – in der Musik würde man sagen – Crescendo der Zeichnungen: Es entstehen immer mehr Werke, eine Zeichnung an Tag eins, zwei an Tag zwei; dreihundert werden es an Tag 24 sein, heißt es in der Beschreibung ihres künstlerischen Experiments.

„Das ist unsere Arbeitsphase eins“, sagt Gabriele Hasler, „wenn sie am 1. November beendet ist, wird sie an anderen Orten fortgesetzt.“ Die kostenlose Veranstaltung bezeichnet sie als ihr Geschenk an Menschen, die Spaß haben an dieser experimentellen, unvorhersehbaren Art von Kunst, deren Struktur sich von Tag zu Tag ändert.

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